Trotz Rüge Täter ungepixelt gezeigt
Zeitung interpretiert den Pressekodex auf ihre Weise
„Diesen Entführer soll (…) nicht mehr zeigen dürfen“ – unter dieser Überschrift berichtet eine Boulevardzeitung über den Prozessauftakt im Fall einer Kindesentführung. Sie hatte schon nach der Entführung ein ungepixeltes Foto des damals Festgenommenen abgedruckt. Die Folge war eine nichtöffentliche Rüge. Auch jetzt – beim Prozessauftakt – zeigt die Zeitung den Angeklagten ungepixelt. Der Autor berichtet über die Kritik des Presserats an der unverfremdeten Darstellung des Angeklagten in diesem und in anderen Fällen. Die Zeitung sei jedoch anderer Meinung. Sie glaube, dass die Öffentlichkeit ein Recht darauf habe zu erfahren, wie ein Vergewaltiger, ein Kinderschänder und ein Mörder aussehe. Daher zeige sie die Täter unverfremdet. Die Zeitung ruft ihre Leser auf, dem Presserat ihre Meinung zu sagen. Eine Leserin der Zeitung kritisiert, dass der mutmaßliche Entführer trotz der nicht-öffentlichen Rüge des Presserats weiterhin gezeigt werde. Dadurch würden dessen Persönlichkeitsrechte verletzt. Die Rechtsabteilung der Zeitung ist der Auffassung, dass die Redaktion mit der Veröffentlichung ihre Chronistenpflicht erfüllt habe. Sie führt eine Reihe weiterer Gründe für die Zulässigkeit der Veröffentlichung an. So sei der Angeklagte mittlerweile rechtskräftig verurteilt worden. Der Prozess habe ein besonderes öffentliches Interesse gefunden. Der Angeklagte habe gestanden. In diesem Fall überwiege das öffentliche Interesse die Persönlichkeitsrechte des Täters. (2011)