Intimsphäre eines Opfers nicht beachtet
Zeitung berichtet mit identifizierenden Details über ein Tötungsdelikt
Eine Boulevardzeitung berichtet gedruckt und online über ein Tötungsdelikt. Eine Frau sei im Treppenhaus eines Wohnhauses auf eine Blutspur gestoßen. Diese habe von der Wohnung einer Bolivianerin bis zur Haustür gereicht. In der Wohnung habe das fünf Monate alte Baby der Frau geschrien. Die Zeitung berichtet, mutmaßlicher Täter sei der Ex-Freund des Opfers, ein Geschäftsmann, der von seiner Frau getrennt lebe. Der Mann sei mit der Bolivianerin liiert gewesen und wohl auch der Vater des Babys. Der Artikel enthält ein Foto vom mutmaßlichen Täter und dem Opfer aus einem gemeinsamen Urlaub. Lediglich in der Online-Ausgabe ist das Foto des Mannes gepixelt. Die Printausgabe enthält zusätzlich ein Foto von Mutter und Tochter, auf dem das Gesicht des Kindes gepixelt ist, sowie eine Aufnahme vom Eingang des mit voller Adresse genannten Hauses. Es zeigt, wie drei Männer einen Leichensack wegtragen. Gedruckt und Online veröffentlicht die Zeitung das Faksimile eines Briefes, den der mutmaßliche Täter an der Außenfensterscheibe der Wohnung des Opfers angebracht hatte. Darin bittet er das Opfer, ihm die gemeinsame Tochter zu überlassen. Die Darstellung der Beteiligten, die mehrfach unverfremdet gezeigt werden, veranlasst einen Journalisten, sich mit einer Beschwerde an den Presserat zu wenden. Er sieht die Persönlichkeitsrechte der Beteiligten verletzt. Das Opfer sei keine Person der Zeitgeschichte, was eine identifizierende Darstellung unter Umständen erlaubt hätte. Der genannte Vorname des Opfers sei in Deutschland so selten, dass eine Identifizierung leicht möglich sei. Auch das Kind werde – leicht verfremdet, aber erkennbar – im Bild gezeigt. Schließlich sei es presseethisch zu beanstanden, einen privaten Brief komplett und lesbar im Faksimile abzudrucken. Der Justitiar der Zeitung beruft sich auf das nach seiner Meinung bestehende erhebliche öffentliche Informationsinteresse an dem Familiendrama. Der mutmaßliche Täter habe das Verbrechen gestanden, so dass das Argument der Unschuldsvermutung nicht greife. Die Veröffentlichung seines unverpixelten Fotos sei nicht zu beanstanden. Als mutmaßlicher Totschläger oder Mörder sei er eine Person der Zeitgeschichte, die eine identifizierende Berichterstattung hinnehmen müsse. Das Foto des Kindes wurde nach Ansicht des Justitiars ausreichend verfremdet. Einem Opfer ein Gesicht zu geben – wie im Fall der Getöteten geschehen – verleihe der Berichterstattung über ein Tötungsdelikt mehr Authentizität und mache die Tragweite der Tragödie anschaulicher. Der von der Zeitung veröffentlichte Brief sei vom Verfasser im Fenster der Wohnung des Opfers bewusst so platziert worden, dass er öffentlich werden musste. Es handele sich also nicht um einen rein privaten Brief, der dem Einblick Dritter in der Regel nicht zugänglich sei. Da das Schreiben den Hintergrund der Tat beleuchte, bestehe an ihm ein öffentliches Interesse.