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Vorverurteilung

In zwei Beiträgen im Abstand von drei Wochen informiert ein Boulevardblatt seine Leser über den aktuellen Stand des Ermittlungsverfahrens gegen eine Krankenschwester, die einer 85 jährigen, bereits todkranken Patientin eigenmächtig und ohne medizinische Indikation ein tödliches Mittel verabreicht haben soll. In der Dachzeile der Überschrift des ersten Beitrags wird die Frau als “Todesengel” bezeichnet. Die Schlagzeile des zweiten Beitrags, der mitteilt, dass der Oberstaatsanwalt jetzt Anklage erhoben hat, lautet. “Schwester setzte die Todesspritze”. Die Familie der Betroffenen kritisiert die Formulierungen als Vorverurteilung und legt Beschwerde beim Deutschen Presserat ein. Die Chefredaktion der Zeitung sieht in der Überschrift “Schwester setzte die Todesspritze” nichts anderes als die Wiedergabe der Auffassung der Staatsanwaltschaft und insoweit keine Vorverurteilung. Auch die Bezeichnung “Todesengel” könne nicht als Vorverurteilung bewertet werden. Die Krankenschwester sei für die verstorbene Patientin zuständig gewesen. Eine andere Person als sie komme für die Verabreichung der Spritze nicht in Frage. Im Hinblick auf die Feststellung, dass die Patientin ohne das gespritzte Mittel länger gelebt hätte, sei die Bezeichnung “Todesengel” durchaus zulässig. (1996)