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Vorverurteilung

Überschrift gibt die Sachlage für sich allein nicht korrekt wieder

Unter der Überschrift „Missbrauch beim Apotheker“ berichtet eine Regionalzeitung über Ermittlungen der Staatsanwaltschaft gegen einen Apotheker, den sie des sexuellen Missbrauchs von acht minderjährigen Kindern in insgesamt 532 Fällen verdächtige. Der angesehene Bürger der Stadt räume einen Teil der ihm zur Last gelegten Handlungen ein. Er beteuere aber, sich ausschließlich „pflegerisch-medizinisch“ um die Kinder gekümmert zu haben. Er habe keine sexuelle Lust an den Kindern gesucht. Vielmehr habe er sich jahrelang um mehrere ausländische Familien gekümmert. Da deren Kinder wegen mangelnder Hygiene an Infektionen im Intimbereich gelitten hätten, habe er helfend eingegriffen und die Kinder mit Cremes und Heilsalben behandelt. Ein Leser der Zeitung legt den Bericht dem Presserat vor. Er sieht in der Überschrift des Beitrages eine Vorverurteilung. Die Chefredaktion der Zeitung spricht in ihrer Stellungnahme von einer zulässigen Verdachtsberichterstattung. Der Fall stoße auf ein erhebliches öffentliches Interesse und für den geäußerten Verdacht gebe es hinreichende Anhaltspunkte. Auf Grund guter Kontakte habe die Zeitung eine umfassende Kenntnis von den Ergebnissen der Ermittlungen erhalten. Aus der Zusammenschau von Überschrift, Unterzeile und Vorspann ergebe sich aber eindeutig, dass hier über ein schwebendes Verfahren berichtet werde. Im Übrigen werde der Betroffene nicht mit Namen genannt, sei also nicht identifizierbar. (2002)