Entscheidungen finden

Leichenfotos

Anonymen Toten von Khao Lak wird die Würde genommen

Unter dem Titel „Wand aus Wasser“ beschreibt ein Nachrichtenmagazin die Jahrhundertkatastrophe rund um den Indischen Ozean. Der Beitrag ist mit verschiedenen Fotos aus dem Katastrophengebiet illustriert. Ein Foto zeigt 17 aufgedunsene, teilweise nackte Leichen am Strand von Khao Lak. Persönliche Merkmale sind nicht zu erkennen. Die Unterzeile lautet: „Szenen aus der biblischen Endzeit“. Auf einem anderen Bild sind Thailänder mit Mundschutz zu sehen, die in Takua Pa bei der Identifizierung von Angehörigen durch ein Labyrinth von Särgen gehen. Die Leichen sind allesamt nicht erkennbar. Es sind lediglich herausragende Extremitäten zu erkennen. Das Bild trägt den Vermerk „Tote und Tote, überall Tote“. Eine Leserin des Magazins wendet sich an den Deutschen Presserat. Mit der Wiedergabe der Bilder werde eindeutig gegen die Würde des Menschen verstoßen. In Gesprächen mit zahlreichen Personen habe sie erfahren, dass ihre Empörung über die unangemessene sensationelle Darstellung der Opfer von vielen Menschen geteilt werde. Dass es angemessenere Möglichkeiten gäbe, das unermessliche Leid der Opfer der Flutkatastrophe deutlich zu machen, ohne die Würde der Getöteten zu verletzen, beweise die Zeitschrift in der selben Ausgabe mit dem Foto einer Inderin, die mit ausgestreckten Händen im Sand des Strandes kauert. Neben der Trauernden ragt der Arm eines Toten ins Bild. (Diese Foto wurde inzwischen als „Welt-Presse-Foto“ des Jahres 2004 ausgezeichnet.) Das Justitiariat des Magazins rechtfertigt in seiner Stellungnahme die Veröffentlichung der Fotos mit einem außergewöhnlichen Interesse der Öffentlichkeit an Informationen über ein Jahrhundertereignis. Das Phänomen des Tsunami sei bis dahin außer in Fachkreisen weitestgehend unbekannt gewesen, sodass jeder entsprechenden Bildberichterstattung eine überragende nachrichtliche, informative und dokumentarische Bedeutung zukomme. Das Foto von Khao Lak zeige eindringlich die bisher nicht gekannte, unvorstellbare Kraft einer Flutwelle, die alles zu Spülmaterial gemacht habe, was sie erfasst habe. Das Bild erlaube weder eine Identifizierung noch sei es sensationslüsternd oder herabwürdigend. Das Foto aus Takua Pa habe vorwiegend nachrichtlichen Charakter. Es zeige die verzweifelte Aufgabe der Überlebenden, ihre toten Verwandten zu finden und zu identifizieren. Der direkte Blick aus der Nähe auf die Opfer in den Särgen sei vom Fotografen vermieden worden. Solche Bilder führten dem Betrachter eindringlich vor Augen, dass bei der Suche und Bergung von Opfern keiner der bisher normalen Maßstäbe galt. Dem Verständnis von Traumatisierungen und schweren psychischen Schäden von Heimgekehrten seien entsprechende Bilder sicher förderlich. Insgesamt, so das Justitiariat, hätten solche Bilder auch zu einer bislang einzigartigen Welle der Solidarität und Spendenbereitschaft geführt. (2005)