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Hauptpunkt der Kritik ging verloren

Gravierende Änderungen eines Leserbriefes ohne Rücksprache

Unter der Überschrift „Heftige Vorwürfe“ veröffentlicht eine Wochenzeitung einen Leserbrief zu einem Leitartikel. Darin hatte sich der Autor mit der Frage befasst, ob ein namentlich genannter Wissenschaftler mit seinem Forschungen gegen das deutsche Stammzellengesetz verstoßen habe. In dem Brief äußert die Leserbriefschreiberin Kritik an der Position des Autors. Dieser bewerte das Verhalten des von ihm kritisierten Wissenschaftlers negativ, informiere aber nicht darüber, dass bei den Forschungen ausschließlich Embryonen verwendet würden, die aus der Reproduktionsmedizin stammten. Die Verfasserin des Leserbriefes wirft der Redaktion vor, ihre Einsendung sinnentstellend gekürzt und umgeschrieben zu haben. Der Hauptpunkt ihrer Kritik sei dadurch verloren gegangen. Änderungen und Kürzungen seien ohne ihr Einverständnis vorgenommen worden. Ursprünglich sei ihr Brief als deutliche Kritik an dem Autor des Leitartikels formuliert gewesen. Davon sei nunmehr nichts mehr übrig geblieben. Fazit: Aus einer deutlichen, aber gut belegten fachkundigen Kritik sei eine kleine, gesichtslose Anmerkung geworden. Der stellvertretende Chefredakteur der Wochenzeitung betont, in der Leserbriefredaktion seien ausdrücklich andere Meinungen als die der Redaktion willkommen. Jedoch werde auf der Leserbriefseite stets auf den Kürzungsvorbehalt der Redaktion hingewiesen. Die bearbeitenden Redakteure seien angehalten, von einer Veröffentlichung abzusehen oder inhaltlich redigierend einzugreifen, wenn es um falsche Tatsachenbehauptungen oder unsachliche und beleidigende Äußerungen gehe. Zum vorliegenden Fall: Zum Zeitpunkt der vorgesehenen Publikation habe die Staatsanwaltschaft gegen den Stammzellen-Forscher ermittelt. Damit sei der Sachverhalt fortgeschritten gewesen. Ein ausdrückliches Verbot der Einsenderin, Passagen zu kürzen oder sinnwahrend abzuändern, habe nicht vorgelegen. Die Chefredaktion habe deshalb der Leserbriefredaktion aufgegeben, den ersten Absatz des Briefes zu streichen. Somit habe ein neuer erster Satz formuliert werden müssen. Laut Chefredaktion wurde eine komprimierte Form des Briefes veröffentlicht. Die Kritik der Verfasserin an der Position des Leitartikels werde deutlich. Allerdings könne man auch zu der Auffassung gelangen, dass das Redigieren in diesem Fall zu weit gegangen sei. (2008)