Bezeichnung als „Mörder“ ist zulässig
Redaktionen sind nicht an juristische Begrifflichkeiten gebunden
„Kardelens Mörder in Haft“ – unter dieser Überschrift berichtet eine Boulevardzeitung über die Festnahme des mutmaßlichen Mörders eines kleinen Mädchens. Ein Leser der Zeitung sieht durch die Überschrift Richtlinie 13.1 des Pressekodex (Vorverurteilung) verletzt. Bis zur Verurteilung durch ein ordentliches Gericht gelte die Unschuldsvermutung. Im Nachtrag zu seiner Beschwerde reicht er eine andere Titelseite der gleichen Zeitung als Beleg für seine Kritik ein. Die Zeitung hatte diesmal getitelt: „Sieben Monate nach der Tat: Michelle (8): Mörder gefasst“. Nach Auffassung der Rechtsabteilung der Zeitung ist die fragliche Schlagzeile im Kontext zu interpretieren. Der Fall Kardelen habe in der Öffentlichkeit ein großes Interesse gefunden. In fast allen Zeitungen sei über das Verbrechen über Wochen hinweg berichtet worden. Dies habe nicht zuletzt daran gelegen, dass sich die Polizei aktiv an die Öffentlichkeit gewandt habe und diese zur Mithilfe aufgerufen habe. Im Zuge der Ermittlungen sei die Wohnung von Ali K. durchsucht worden. Seine DNA habe mit DNA-Spuren übereingestimmt, die die Polizei am Tatort gefunden habe. Darauf sei Haftbefehl erlassen und eine europaweite Fahndung eingeleitet worden. Der Verdächtige sei schließlich in der Türkei festgenommen worden. Die Rechtsabteilung ist der Meinung, dass aus der Sicht des unbefangenen Durchschnittslesers die Schlagzeile nur so zu verstehen sei, dass die Person, die anhand der übereinstimmenden DNA-Spuren eindeutig als Täter identifiziert worden sei, von der Polizei fest- und in Untersuchungshaft genommen worden sei. Die Zeitung kann auch im Fall Michelle kein Fehlverhalten erkennen. Der Täter sei geständig und es habe eine Fülle von Beweisen gegen ihn vorgelegen. Dies sei für den Leser eindeutig erkennbar gewesen. Richtlinie 13.1 stelle klar, dass die Presse nicht an eine exakte juristische Begrifflichkeit gebunden sei. (2009)