Aus unserer Spruchpraxis

Versuchter Suizid auf dem Bahnsteig

Entscheidung: unbegründet
Ziffer 8, Richtlinie 8.7

Der Fall: Eine Regionalzeitung berichtet online über eine zwanzigminütige Sperrung von zwei Bahnsteigen am Hauptbahnhof wegen eines „Personenunfalls“. Die Zeitung schreibt: „Offenbar handelt es sich um einen Suizidversuch, wie ein Sprecher der Bundespolizei gegenüber der (…) bestätigte.“ Am Ende des Beitrages teilt die Redaktion mit, dass sie in der Regel nicht über Suizidversuche berichte. Sie weist auch auf Hilfsangebote bei Depressionen (u. a. Telefonseelsorge) hin.

Ein Vertreter der S-Bahn wendet sich wegen der Berichterstattung über den Suizidversuch mit einer Beschwerde an den Presserat. Der Nachahmungseffekt („Werther“-Effekt) werde von der Redaktion in Kauf genommen. Der Hinweis auf die Telefonseelsorge reiche nicht aus, um der Gefahr zu begegnen. Im Pressekodex werde eine zurückhaltende Berichterstattung gefordert. Es hätte ausgereicht, sachlich über den Unfall zu berichten, ohne den Suizidversuch zu erwähnen.

Die Redaktion: Die Rechtsvertretung der Zeitung hält die Beschwerde für unbegründet. Lediglich in einem Satz werde auf den Suizidversuch hingewiesen. Es habe ein öffentliches Berichterstattungsinteresse bestanden. Dies vor allem deshalb, weil die Sperrung von zwei Bahnsteigen und Gleisen zu Verspätungen geführt und zahlreiche Fahrgäste beeinträchtigt habe. Für die Reisenden sei es eine wichtige Information, dass die Verspätung nicht auf ein Verschulden der Bahn zurückgehe.

Die Mitteilung, dass es sich um einen Suizidversuch gehandelt habe und die Rettungsmaßnahmen nun abgeschlossen seien, hätte deutlich zur Beruhigung der Leser beigetragen. Es werde lediglich im Fließtext und nicht in der Aufmachung auf den Suizidversuch hingewiesen. Nähere Begleitumstände würden nicht genannt. Auch werde die Person nicht identifizierbar gemacht. Fotos habe die Redaktion nicht veröffentlicht.

Die Entscheidung: Die Berichterstattung ist mit der Ziffer 8, Richtlinie 8.7, des Kodex (Selbsttötung) vereinbar. Die Beschwerde ist unbegründet. Schwerpunkt der Berichterstattung sind die verkehrstechnischen Auswirkungen des Suizid-Versuchs für die Pendler am Berliner Hauptbahnhof. Zugausfälle an einem Drehkreuz sind von öffentlichem Interesse. Die sachliche Erwähnung, es handele sich vermutlich um einen Suizid unter Berufung auf die Quelle Bundespolizei hält der Ausschuss für akzeptabel. Die Zeitung hat damit keinen Raum für andere Spekulationen geboten. Im Hinweis auf Hilfsangebote sieht das Gremium keinen Kodex-Verstoß. Derartige Hinweise haben präventiven Charakter. (Aktenzeichen: 1008/18/1)

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