Rügen für Verstöße gegen die Sorgfaltspflicht
Der Deutsche Presserat hat auf nachgelagerten Sitzungen am 23. bis 28. April sechs Rügen ausgesprochen. Im Fokus standen Verletzungen der Sorgfaltspflicht.
Identifizierend über Kriegsgefangene berichtet
BILD.DE erhielt eine Rüge, weil die Redaktion in dem Artikel „Ukraine nimmt zwei Nordkorea-Soldaten gefangen“ den Persönlichkeitsschutz von Kriegsgefangenen verletzte. Die Redaktion nahm einen Post des ukrainischen Präsidenten Selenskyj zum Anlass, um über die Gefangennahme von zwei mutmaßlich aus Nordkorea stammenden Soldaten zu berichten. Sie zeigte Fotos der verletzten Gefangenen sowie Bilder eines russischen Armeeausweises. In der Veröffentlichung sah der Presserat eine massive Verletzung des Persönlichkeitsschutzes nach Ziffer 8 des Pressekodex. Die Kriegsgefangenen wurden mit ihren erkennbaren Verletzungen in Nahaufnahme gezeigt und zur Schau gestellt. Auch die Abbildung des Armeeausweises mit Namen und weiteren Angaben verletzte den Persönlichkeitsschutz des Betroffenen.
Behauptung über Grünen-Abgeordneten nicht belegt
BILD.DE erhielt eine Rüge wegen einer unbelegten Äußerung über den Grünen- Bundestagsabgeordneten Andreas Audretsch. Unter der Überschrift „Gau für die Grünen“ berichtete die Redaktion über mutmaßliche Vorwürfe der sexuellen Belästigung gegen den Kandidaten der Partei für die Bundestagswahl Stefan Gelbhaar und behauptete, Audretsch sei in diesen Vorgang „verstrickt“. Belege für diesen Vorwurf gab die Redaktion jedoch nicht an und verstieß damit gegen die Sorgfaltspflicht nach Ziffer 2 des Pressekodex. Wegen der Vorwürfe verzichtete Gelbhaar auf eine Kampfkandidatur gegen Audretsch. Für eine Beteiligung Audretschs an den Vorwürfen gab es jedoch keine Anhaltspunkte.*
* Transparenzhinweis: Ursprünglich hatten wir geschrieben, Audretsch sei nach Gelbhaars Verzicht auf eine Kandidatur auf dessen Listenplatz nachgerückt. Tatsächlich hatte Audretsch weit vorher auch öffentlich angekündigt, auf Listenplatz 2 zu kandidieren, völlig unabhängig von Herrn Gelbhaar. Audretsch ist nicht auf einen "Listenplatz nachgerückt".
Redaktion veröffentlicht ungeprüft falschen Wahlaufruf
Wegen eines schweren Verstoßes gegen die journalistische Sorgfaltspflicht nach Ziffer 2 des Pressekodex wurde die Online-Ausgabe der BERLINER ZEITUNG gerügt. Die Redaktion hatte offenbar lediglich auf Grundlage von Social-Media-Posts von AfD-Politikern berichtet, der laut IQ-Wert schlauste Mann der Welt rufe zur Wahl der AfD auf. Verlautbarungen von Politikern – gerade auch wenn sie eigenwerblich sind – sind jedoch grundsätzlich keine verlässlichen Quellen, denen Redaktionen ungeprüft Glauben schenken können. Eine Recherche zu dem Mann mit dem angeblich weltweit höchsten IQ-Wert hätte hingegen schnell Zweifel an den von der Partei veröffentlichten Informationen aufkommen lassen.
Vorverurteilende Berichterstattung über Vergewaltigungsprozess
BILD.DE erhielt eine Rüge für einen vorverurteilenden Bericht über einen Mediziner, dem die Vergewaltigung von Patientinnen vorgeworfen wurde. Unter der Schlagzeile „Arzt (52) vergewaltigt 19 Frauen bei Darmspiegelung” berichtete die Redaktion über den Strafprozess gegen den Mediziner. Er stand im Verdacht, unter Narkose stehende Frauen mit dem Finger penetriert zu haben. Zwar informierte die Unterzeile in wesentlich kleinerer Schrift, dass der Arzt die Vorwürfe bestreitet. Angesichts der Verwendung des Indikativs in der Schlagzeile und der wesentlich kleineren Relativierung darunter verstieß der Artikel jedoch massiv gegen Ziffer 13 des Pressekodex, nach der Redaktionen nicht vorverurteilen dürfen. Verstärkt wurde dieser Eindruck noch durch den Text des Beitrags, der die dem Mann vorgeworfenen Taten im Indikativ schilderte und angab, die Darstellung der Verteidigerin sei durch die Aussage einer Zeugin widerlegt.
Politikerin umstrittene Botschaft unterstellt
BILD.DE erhielt eine Rüge, weil die Redaktion die damalige Bundestagsvizepräsidentin Aydan Özoğuz wegen eines LinkedIn-Profilfotos in einen nicht belegten Kontext rückte. In dem Beitrag „Flaggen-Fauxpas um Bundestags-Vize Özoğuz“ berichtete die Redaktion, Özoğuz habe sich auf dem Karriereportal bewusst mit einem Bildausschnitt präsentiert, auf dem die Farben der palästinensischen Flagge zu sehen seien. Tatsächlich handelte es sich um einen Ausschnitt, auf dem sie in einem weißen Blazer vor einer Deutschlandflagge, von welcher die Farben Schwarz und Rot zu sehen waren, und einem türkisgrünen Hintergrund posierte. Es gab jedoch keine Anhaltspunkte dafür, dass Özoğuz den Bildausschnitt bewusst gewählt hatte, um eine entsprechende politische Botschaft zu setzen. Der Beschwerdeausschuss erkannte daher massive Verstöße gegen die Wahrhaftigkeit nach Ziffer 1 sowie die Sorgfalt nach Ziffer 2 des Pressekodex.
Tatverdächtiger Arzt trotz Augenbalken erkennbar
BILD.DE erhielt eine Rüge, weil die Redaktion unter der Schlagzeile „Arzt kommt wegen toter Krankenschwester vor Gericht“ identifizierend über einen Tatverdächtigen berichtete. Im Text hieß es, der Arzt habe der Krankenschwester entgegen medizinischer Indikation eine Spritze mit Propofol und Ketamin verabreicht und sie danach nicht ausreichend überwacht. Die Redaktion veröffentlichte ein Foto des später freigesprochenen Mediziners und legte lediglich einen schmalen schwarzen Balken über seine Augen, zudem nannte sie seinen Vornamen, abgekürzten Nachnamen und das Krankenhaus, in dem er tätig ist. Dadurch wurde er nach Ansicht des Beschwerdeausschusses identifizierbar und der Schutz seiner Persönlichkeit nach Ziffer 8 des Pressekodex verletzt. Außerdem verwendete die Redaktion ohne dessen Einwilligung ein privates Gruppenfoto, aus dem sie den Arzt herausschnitt und isoliert darstellte.
Statistik:
Sechs öffentliche Rügen, sieben Missbilligungen und zehn Hinweise. 17 Beschwerden wurden als unbegründet erachtet. Eine Beschwerde war begründet, es wurde aber auf eine Maßnahme verzichtet. Insgesamt behandelt wurden 41 Beschwerden.